Sternmut-Literatur-Bunt
am Donnerstag 03.11.2022
mit Widmar Puhl
Widmar Puhl liest aus: „Suleikas rebellische Kinder“. Gedichte
Pop Verlag, Ludwigsburg 2019, Lyrikreihe Bd. 133
ISBN: 978-3-86356-275-5
226 Seiten, D 16,50 €, A 17 €, CH 19,80 SFr
Pressetext
In diesen Gedichten kommen wir durch die Welt. Eine ebenso gewandte wie gewitzte lyrische Sprache sprechend, nimmt der Autor uns an die Hand und bereist mit uns Länder und Kulturen, Kartographien und Architekturen, Kirchen und Moscheen, Vorstellungen und Phantasien. Es ist der Geist der Aufklärung, der durch diese Seiten weht, die Faszination für eine fremde Welt ebenso, wie das gesunde Misstrauen gegenüber der vorschnell gefassten Meinung. Orient und Okzident sind Goethes Diktum zufolge nicht voneinander zu trennen. Als der Weimarer Dichterfürst dies in seinem West-östlichen Divan verkündete, der vor genau 200 Jahren erschien, war er allerdings der 35 Jahre jüngeren Marianne von Willemer verfallen, die im schönen, romantischen Heidelberg lebte und dem ergrauten Herrn auf dem Schloss-Altan mit einem Ginkgo-Blatt über die Nase strich. Es ist anzunehmen, dass zu jener Zeit in ihr das Licht noch immer hell aufstrahlte, in ihm jedoch allmählich am Erlöschen war. Das weckt natürlich Sehnsüchte, so wie der Orient für den Okzident immer schon das Land erotischen Phantasien und romantischer Träume aus Tausendundeiner Nacht war.
Die Beziehung zwischen den Kulturen des Westens und des Nahen Ostens ist jedoch seit jeher voller Spannungen. „Gehört der Islam zu Deutschland?“, wird hierzulande polemisch gefragt. Nationalismus und identitäre Bewegungen wachsen auch in der Mitte einer Gesellschaft, die sich gern den Anschein der Liberalität und des Pluralismus gibt. Angesichts stets schwelender Konflikte in der Golfregion, angesichts islamistischer Attacken, die verständliche Ängste hervorrufen, angesichts zahnloser Regierungen und Kirchen, die sich im Schweigen üben, scheinen viele nicht recht zu wissen, wie denn nun Orient und Okzident überhaupt zusammengehören sollen.
Anders als noch zu Zeiten Goethes, ist die Kultur des Islam mit ihrem musischen Reichtum inzwischen mitten in unserer Gesellschaft angekommen. Offensichtlich leider jedoch, ohne sich erkennbar zu Wort zu melden oder sich am gesellschaftlichen Diskurs nennenswert zu beteiligen. Die Sprache der Dichtung scheint dennoch eine der wenigen guten Möglichkeiten zu sein, über Glaubens- und Mentalitätsgrenzen hinweg ein Gespräch anzuzetteln zwischen zwei Welten, die längst nicht mehr voneinander zu trennen sind und sich doch sehr von einander unterscheiden.
Der Stuttgarter Lyriker Widmar Puhl wagt mit seinen neuen Gedichten eine Entgegnung auf Goethes Divan. Es ist eine zeitgemäße Fortsetzung und Erweiterung des Dialogs zwischen den Kulturen, die offensichtlich manchmal in einer Art Hassliebe miteinander verbunden sind. Puhl eröffnet mit seinen Gedichten erneut das Gespräch zwischen Ost und West, auch dem Ost und West in den Köpfen, er spannt einen weiten Bogen, durch Jahrhunderte und über Ländergrenzen hinweg. Und das ist nicht weniger als ein Neuansatz. Ein Vierteljahrhundert lang hat Widmar Puhl an seinem Divan gearbeitet. Entstanden ist ein lyrisches Werk, in das verschiedenste Formen und Stile Eingang fanden, angetrieben von dem Mut, angesichts der allgegenwärtigen, durch Angst und Vorurteile hervorgerufenen Lähmung und Ermattung die Stimme zu erheben und Stellung zu beziehen, für das offene Wort und für den Dialog.
Vor uns liegt ein Buch, das neben der Sprachkunst des Autors zeigt, dass es sich lohnt, den Gegensätzen in der Welt offen, neugierig und lustvoll zu begegnen. Und dass es zur Menschenwürde und zum Menschenschicksal gehört, jederzeit eigenwillig und kritisch zu bleiben. Nicht zuletzt aber erzählt es auch von der Faszination eines leidenschaftlich Reisenden für die Kultur und die Geheimnisse des Nahen Ostens.
Vorwort des Autors
Vor 200 Jahren veröffentlichte Johann Wolfgang von Goethe seinen “West-östlichen Divan”. Meine Gedichtsammlung ist ein poetischer Dialog mit Goethe und zahlreichen weiteren Stimmen im konfliktreichen Spannungsfeld zwischen Orient und Okzident. Das Buch setzt sich inhaltlich, formal und strukturell auseinander mit Goethes „Divan“ und schreibt ihn fort.
Denn erstens ist in den 200 Jahren seit dem Entstehen dieses berühmten Brückenschlags zwischen westlicher und östlicher Poesie viel geschehen. Aus heutiger Sicht genügen höchstens noch eine gute Handvoll von Goethes „Divan“-Gedichten den formalen Kriterien moderner Poesie. Zweitens aber stammt die Aufforderung zu solcher lyrischen Vervollständigung, die wohl ebenfalls immer nur Stückwerk sein kann, im Grunde von Goethe selbst. Er wusste genau um die Unvollkommenheit seines „Divans“ und schrieb über einen „künftigen Divan“ in seinen Noten und Abhandlungen: „Denn eben dass dieses Büchlein so dasteht, wie ich es jetzt mitteilen konnte, erregt meinen Wunsch, ihm die gebührende Vollständigkeit nach und nach zu verleihen. Was davon allenfalls zu erhoffen sein möchte, will ich Buch für Buch der Reihe nach andeuten“. (Zitiert nach Johann Wolfgang Goethe, Artemis-Ausgabe Sämtliche Werke Bd. 3, S. 489).
Ich habe den Wunsch nach Vervollständigung als Aufforderung Goethes an die Nachwelt wörtlich genommen. Es schien mir logisch zu sein, zumal es in 200 Jahren seit der Erstveröffentlichung seines Divans kein anderer Autor getan hat. Es besteht also Bedarf. Ein work in progress und ein Stück weit größenwahnsinnig bleibt so ein Unternehmen trotzdem auch heute, aber das kann kein Grund sein, es zu unterlassen. Den Anfang einer solchen Fortsetzung immerhin bildet das Buch „Suleikas rebellische Kinder“, und am Beginn dieses Anfangs steht eine Art literarischer “Tafelrunde” ähnlich der des König Artus, deren Teilnehmer den seit Goethe ruhenden (fiktiven) Dialog der Dichter exemplarisch wieder aufnehmen.
Die Arbeit daran begann 1992. Sie versucht einen poetischen Brückenbau in Zeiten des islamistischen Terrors und des Islam unter Generalverdacht. Das Buch folgt leicht abgewandelt dem Aufbau von Goethes „Divan“, eingeteilt in 12 Bücher bzw. Kapitel mit je einem Vierzeiler zu Beginn. Im Übrigen sind die Gedichte aber formal sehr frei.